22 August 2024

Der Bessermacher

Nach einer Traumsaison verliert der VfB Stuttgart seinen Captain, seinen Top-Torschützen und seine Abwehrkonstante. Dass bei den Schwaben trotzdem Zuversicht herrscht, liegt am Mann an der Seitenlinie.

„Ich muss ehrlich sagen, ich weiss gar nicht, was ich jetzt tun soll.“ Mit diesen etwas verlegenen Worten begann Sebastian Hoeness seine kurze Rede am 4. Mai. Der VfB Stuttgart hatte gerade Bayern München 3:1 geschlagen. Die Fans hatten den Trainer daraufhin an ein Versprechen erinnert, das er im Dezember gegeben hatte. Schon damals wünschten sich die Fans, dass der Trainer „auf den Zaun steigt“, um mit ihnen zu feiern. Das werde er machen, „wenn wir etwas erreicht haben“, sagte Hoeness.

Nun war es soweit. Der Sieg gegen den Rekordmeister bedeutete die Qualifikation für die Champions League – die erste seit 15 Jahren. Also löste Hoeness sein Versprechen ein, stieg mit Mikrofon auf den Zaun und liess vor der Cannstatter Kurve „sein Herz sprechen“. Es sei unbeschreiblich, was das Team gemeinsam mit den Fans in dieser Saison erleben durfte, sagte Hoeness. Er wolle aber nicht lange reden, denn der Applaus gehöre „den Jungs da unten. Die sind so überragend“.

Es spricht für den Trainer, dass er die ihm entgegengebrachte Wertschätzung sofort weitergegeben hat. Dabei wissen die Fans genau, welchen Einfluss Hoeness auf die Mannschaft hatte, die ein Jahr zuvor nur knapp dem Abstieg entgangen war.

Anfang April 2023 ernannte die VfB-Spitze Hoeness zum Trainer. Er hatte einen von der Liga-Zugehörigkeit unabhängigen Vertrag unterschrieben, da die Mannschaft zu diesem Zeitpunkt am Tabellenende stand. Mit Pellegrino Matarazzo, Interimstrainer Michael Wimmer und Bruno Labbadia hatten in dieser Saison vor Hoeness bereits drei andere Trainer bei den erfolglosen Stuttgartern an der Seitenlinie gestanden.

Bei den Fans hielt sich die Freude über die Verpflichtung in Grenzen, denn über den neuen Coach war eher wenig bekannt. Mit Jahrgang 1982 gehört er zur eher jüngeren Garde. Zuvor war er erst einmal Cheftrainer in der höchsten Liga gewesen. Allerdings hatte Hoffenheim in den zwei Saisons unter ihm keine Stricke zerrissen. Auch die Tatsache, dass er der Neffe von Bayern-Legende Uli Hoeness ist, brachte ihm bei den Schwaben keine zusätzlichen Sympathiepunkte ein – eher im Gegenteil.

Doch spätestens am letzten Spieltag hinterliess Hoeness einen bleibenden Eindruck. Nach dem 1:1 gegen Hoffenheim war die Stimmung im Neckarstadion bedrückt. Zwar war der direkte Abstieg verhindert worden, doch die erhoffte Rettung blieb aus. Stuttgart musste in die Relegation. Hoeness richtete die enttäuschten Spieler einzeln auf und ballte die Faust in Richtung der Fans. Seine Körpersprache vermittelte: Wir werden nicht absteigen. Im folgenden Duell gegen Hamburg überzeugten die Stuttgarter auf ganzer Linie und gewannen 3:0 und 3:1.

Vor diesem Hintergrund erscheint das, was in der folgenden Saison geschah, umso erstaunlicher. Im Schatten der alles überstrahlenden Leverkusener mit Trainer Xabi Alonso schrieben Hoeness‘ Stuttgarter ihr eigenes Märchen. Der 2. Rang war die beste Platzierung seit dem sensationellen Meistertitel 2007 (mit Ludovic Magnin und Marco Streller), wobei die Stuttgarter sogar drei Punkte mehr holten als in der Meistersaison.

Verantwortlich für den Erfolg waren zum einen gezielte Verstärkungen im Sommer, nicht wenige auf Wunsch von Hoeness. Zum anderen ist es dem Trainer gelungen, aus talentierten Spielern eine Mannschaft zu formen. In Stuttgart nennt man ihn deshalb bereits den „Bessermacher“. So wurden Chris Führich (26 Jahre alt), Maximilian Mittelstädt (27), Waldemar Anton und Deniz Undav (beide 28) in der vergangenen Saison alle erstmals in die deutsche Nationalmannschaft berufen und schliesslich auch zur EM mitgenommen.

Auch der Schweizer Leonidas Stergiou wurde nach längerer Abwesenheit wieder zum Thema im Nationalteam und kam sogar zu EM-Einsätzen. Er habe im vergangenen Jahr viel gelernt, sagte der 22-jährige Verteidiger während der EM-Vorbereitung in „seinem“ Stuttgart. Auch wenn er sich in Geduld üben musste und erst gegen Ende der Saison regelmässig spielte.

Als Vorbild nennt Hoeness einen der ganz Grossen im Trainergeschäft. „Pep Guardiolas Fussball ist unglaublich“, sagte der gebürtige Münchner gegenüber „The Athletic“. „Als er Bayern-Trainer war, bekamen die Gegner kaum Luft zum Atmen. Manche fanden es einseitig und langweilig. Mich hat es mitgerissen.“ Er habe das Glück gehabt, während seiner Trainerausbildung gut zwei Stunden mit Guardiola sprechen zu können. „Er und die Spanier generell haben einen viel philosophischeren Zugang zum Fussball. Es geht ihnen mehr darum, dass die Spieler Freude am Umgang mit dem Ball haben. Und das ist doch der Grund, wieso wir das Spiel alle lieben.“

Davon inspiriert, liess auch Hoeness mitreissenden Fussball spielen. Das weckte Interesse. Neben Anton wechselte auch Serhou Guirassy, der zweitbeste Torschütze der vergangenen Bundesliga-Saison, zu Borussia Dortmund. Abwehrspieler Hiroki Ito unterschrieb beim FC Bayern, mit dem auch Hoeness in Verbindung gebracht wurde. Dieser entschied sich jedoch zu bleiben und unterschrieb einen bis 2027 datierten Vertrag.

Auch wenn die Abgänge der Leistungsträger zu den Ligakonkurrenten schmerzen, herrscht in Stuttgart Zuversicht. Man traut Hoeness zu, wieder das Beste aus der Mannschaft zu herauszuholen, zu der neu auch der Berner Fabian Rieder gehört. Der Supercup, in dem der VfB dem Double-Gewinner Leverkusen erst im Penaltyschiessen unterlag, war ein Indiz dafür, dass auch in der schwierigen Saison der Bestätigung mit den Stuttgartern zu rechnen ist.

Wenig Begeisterung zu Beginn

Hoeness macht Spieler besser

Von Guardiola inspiriert